Magazin: Der 13. November ist dieses Jahr der „Welttag der Armen“ den Papst Franziskus 2016 ins Leben gerufen hat. Wie begegnet Ihnen in Ihrer Position Armut?
Olf: Was zunimmt, sind Engpässe in der ganz normalen Alltagsversorgung. Wenn ich die Sprache der Hilfesuchenden beherrsche, erwischt mich das ganze Programm. Ich werde zum „Papa“, habe die halbe Nacht Telefondienst, bekomme Gebetsaufträge. Manchmal sehr rührende Geschichten, manchmal braucht es starke Nerven. Dafür habe ich aber auch die Möglichkeit, wirklich einzugreifen wie Don Camillo.
Waldburg zu Zeil: In meiner Position als Pfarrer sehe ich den klassischen Bettler, der an die Tür klopft und etwas braucht. Darüber hinaus kommen auch immer mehr Menschen, die man gar nicht als Bettler bezeichnen sollte. Diese haben einfach Pech in ihrem Leben und kommen mit dem, was sie haben, nicht aus. So sind nicht wenige Menschen einfach überschuldet. Hier zu helfen ist besonders schwierig, weil sich hier meist ein Fass ohne Boden auftut. Auch kommen Menschen zu mir, die seelische Probleme, Ehe- und Beziehungsprobleme haben. Ich sehe aber auch Menschen, besonders junge Menschen, die sich ihrer Armut im Glauben zwar nicht bewusst sind, aber dennoch fragen nach dem Sinn des Lebens. Hier denke ich Heiratswillige, die plötzlich feststellen, mehr vom Glauben wissen zu wollen. Hier sehe ich junge Eltern, die ihr Kind zur Taufe tragen wollen, aber gar nicht wissen, was sie hier tun.
Olf: Stichwort: Fass ohne Boden. Das ist oft der nachhaltigste Eindruck. Pekuniär, aber auch seelisch. Geschichten zum Heulen. Es gibt da eine strukturelle Armut, in die Menschen hineingezogen werden. Nachts steigt dann bei mir manchmal die Wut über eine Gesellschaft, die mit den Enttäuschungen solcher Menschen auch noch Profit macht oder stolz ist auf Einrichtungen und ihre Bilanzen, statt sich die Mühe der ständigen Begleitung der Haltlosen zuzumuten.
Waldburg zu Zeil: Bleiben wir zunächst bei den materiellen Hilfen. Doch bekommen wir als Priester, wir als Kirche nicht häufig genügend Geld, um es denen zukommen zu lassen, die es am nötigsten brauchen? Diese Gelder sind nicht zum Sparen da. Auf wen wollen wir denn warten? In meiner Arbeit in der Armenfürsorge arbeite ich nach dem Prinzip der Augenhöhe. Es steht uns als Kirche, als Seelsorger oder auch als freigebiger Mensch nicht zu, darüber zu urteilen, was der Bedürftige mit dem Geld macht, das ich ihm gebe. Das mag zunächst verwunderlich klingen. Doch wenn ich in jesuanischer Sicht den Nächsten nicht auf Augenhöhe begegne, wird er mir kein Vertrauen entgegenbringen. Wie oft führen wir uns auf und wollen den Nächsten erziehen. So steht es mir nicht zu, dem anderen z.B. Geld für Lebensmittel zu geben und ihm im gleichen Atemzug verbieten, Alkohol und Nikotin zu kaufen. Wir müssen uns in die Lage der Bedürftigen versetzen, was die brauchen. Und so steht es uns nicht zu, hier zu urteilen. Dabei muss man das Risiko eingehen, dass der Bedürftige selber einschätzen darf, was für ihn gut ist.
Welche Begegnungen mit Armut haben Sie in letzter Zeit besonders beeindruckt?
Olf: Die allgegenwärtige Überforderung! Ich fürchte die zunehmende Armut der jungen Armen in Stresssituationen, der Arbeitslosen, der Alleinerziehenden, der Überforderten einer abstrusen Verwaltungsorgie, ich fürchte mich vor der klammheimlichen Wut derer, die sich ständig auf der Verliererseite sehen.
Waldburg zu Zeil: Ich habe häufig Kleinkredite vergeben. Wissend, dass diese i.d.R. nicht zurückgezahlt werden. Ein Mal kam nach zwei Jahren ein Flüchtling aus der Levante wieder zu mir und brachte die vereinbarte Summe zurück. Ich wollte ihm dieses Geld gerne schenken. Doch dieser Mann bestand darauf, seine Schulden zurückzubezahlen. Ich war sehr gerührt und dachte an die Zehn vom Aussatz geheilten, zu denen nur der Fremde aus Samarien zu Jesus zurückkam und sich bei ihm bedankte.
Magazin: Haben wir uns an die Krise gewöhnt und stumpfen wir ab? Wie geht Ihre Gemeinde damit um?
Olf: Das könnte zur Frage aller Fragen werden. Allerdings, haben wir mittlerweile Anstöße genügend zum Umdenken bekommen. Und die Menschen in der Ukraine dürften uns so manchen zu denken und zum Umlernen gegeben haben.
Waldburg zu Zeil: Gottlob geht es uns allen, verglichen mit anderen Ländern sehr gut. Zunächst darf man auch darauf hoffen und aufbauen, dass der Mensch in Krisen flexibel und phantasievoll reagiert. So ist es auch eine große Hürde, seinen Stolz zu überwinden und um Unterstützung anzusuchen. Außerdem hat unser Staat grundsätzlich auch ein feinmaschiges Fangnetz. Dennoch bereiten wir uns darauf vor, wenn auch zunächst noch gemächlich, dass es im kommenden Winter zu Krisen vor Ort kommen kann.
Magazin: Gehört Armut mittlerweile schon zur Normalität?
Olf: Ich glaube, mittlerweile ja. Die unverbindliche Diskussion funktioniert nicht mehr, die Hilfe als Auftragsarbeit reicht nicht mehr. Und die Willkommenskultur als großzügige politische Geste ist deutlich kleinlauter geworden. Es gibt ein wunderbares Wort von Abbé Pierre, dem legendären Vater der Armen, seinerzeit in den Banlieues von Paris, das lautet „Verzeih mir das Brot, das ich Dir gebe“. Wir erleben aber schon eine ganze Weile, wie ansteckend Hilfsbereitschaft sein kann. Wenn daraus eine völkerübergreifende compasion wird, dergestalt, dass Notleidende selber die Erfahrung machen, für andere zur Hilfe und zum Segen werden zu können, könnte das zu einer Atmosphäre der Verschwisterung führen.
Waldburg zu Zeil: Wenn wir in die Geschichte schauen, wenn wir die Hl. Schrift auch im Alten Testament lesen, ist Armut, besonders die materielle Armut allgegenwärtig. Armut ist wohl Teil unseres Lebens. Doch auch hier muss differenziert werden, was Armut ist. Dabei gibt es zwei Blickwinkel: Wer definiert, was Armut ist, und wie definiere ich für mich, ob ich arm bin oder nicht. Hier kommt es sehr auf die je einzelne Erwartungshaltung an. Besonders materielle, aber auch geistige und seelische Armut ist daher leider immer relativ. Ein mir leitendes Wort in der Definition zur Armut ist, als Jesus den Blinden fragt: „Was willst Du, dass ich dir tue?“ (Lk 18,41a). Es ist nicht gut, dass wir, denen es uns gut geht, vorgeben und meinen, was für den andern gut sein mag. Es ist wichtig, dem andern die Chance zu geben, selber artikulieren zu dürfen, was er braucht. Dann können wir auch richtig handeln.
Magazin: Was können wir Malteser aus der Bibel für unsere Arbeit mitnehmen?
Waldburg zu Zeil: Dass wir Malteser von jeher uns um die Armen, die Nächsten, die Bedürftigen bemühen, können wir täglich sehen, machen wir täglich, ist uns mehr oder minder in Fleisch und Blut übergegangen: Rettungs- und Sanitätsdienst, Besuchs- und Begleitdienst, Hospiz- und Einkaufsdienst, körperliche und seelische Betreuung, Jugend- und Seniorenbetreuung, und so viele Dienste mehr! Doch wie steht’s um unser Bewahren des Glaubens? Besteht hier nicht die Gefahr, dass wir hierin selber in Armut verfallen oder gar schon in Armut verfallen sind? Unser Glaube ist ohne Bibel gar nicht möglich. Was mag das konkret heißen?
Schlägt man nur das Tagesevangelium oder die Tageslesung auf, sei dies im Privaten, sei dies im Gruppenabend, sei dies vor Dienstbeginn, sei dies mit denjenigen, für die wir im Moment da sind, gibt es fast immer eine kleine Passage, die gerade jetzt passt. Dies gilt es auszuprobieren, dies gilt es sogar zur Routine zu machen. Allein das kurze Innehalten zum täglichen Lesen in der Hl. Schrift genügt. Hierfür hat unsere Kirche ja schon alles vorbereitet. Und all das ist in der heutigen Zeit durch eine Vielzahl an elektronischen Medienangeboten möglich.
Magazin: Wir nähern uns Weihnachten. Statt Besinnlichkeit stets oftmals der Konsum im Zentrum des Festes. Was können Sie uns hierzu mitgeben?
Olf: Die Weihnachtsthematik ist für mich immer, wenn sie angesprochen wird, eine Glatteisgeschichte. Nirgendwo so sehr als im christentümlichen Abendland boomen an Weihnachten Wohltätigkeitsideen, Bazare, Aktionen. Nehmen wir diesen Pflichtübungen die Nikolausmütze ab, bleibt aber auch hier noch genug Sinnvolles übrig. – Und immer wieder hört man dann, dass jetzt die Gewohnheitschristen in den Kirchen Hochsaison haben. Das mag stimmen, ein Stück weit. Aber es gibt inzwischen viele Initiativen, wo denen ein Platz eingeräumt ist, die sonst an diesem Abend nicht wüssten, wohin sie gehen sollten. Gott sei Dank. Denn wann, wenn nicht jetzt, und wo, wenn nicht hier, sollte Raum sein, genügend Raum für Gefühle!? Und, wenn sich dann, in der Mette, ganz hinten in der Kirche der eine oder andere späte Trinker verirrt, ohne Heimstatt und Familie, wenn er seine Flasche an der Kirchenmauer abstellt und sich heimlich in die Kirche schleicht, weil da ein altes verstecktes Gefühl ihn dazu drängt, und er dort hinten Rotz und Wasser heult, dann ist für mich wirklich Weihnachten, richtiges Weihnachten geworden.